Vom ACAB Paradoxon

Ein Mensch bleibt ein Mensch

Die Straßen sind leer, es ist kurz vor Mitternacht. Einziges Geräusch sind die eigenen Stiefel, die durch leises Knirschen das Vorankommen akustisch begleiten. Hinter einigen Fenstern brennt noch Licht, vereinzelt sind leise Gespräche auf Balkonen zu hören. Auf der linken Seite der Straße reiht sich ein großer Altbau zwischen den anderen Häusern ein. Zwei Zimmer sind noch beleuchtet. Im dämmrigen Licht sind Bücherregale zu erkennen, deren Stöhnen unter der Last des geballten Wissens bis auf die Straße zu hören ist. Das Zimmer im Hochpaterre hat drei große Fenster, allesamt umrahmt von filigranen Leisten. Zwischen den mittleren Leisten spannt sich eine kleine Girlande, die Buchstaben hängen in der Mitte des Fensters. Von innen spiegelverkehrt aufgehängt ist die Girlande so platziert, dass die Botschaft von außen gut lesbar ist. Verkündet wird die Nachricht von bunten Buchstaben die aussehen, als hätten sie in ihrem vorherigen Dasein „Happy Birthday“ gewünscht. Das neue Arrangement hingegen teilt ein freundlich anmutendes „ACAB“ mit seinem Publikum – „All Cops Are Bastards“.

An dem Haus hängen noch andere Parolen, unter anderem „Black Lives Matter“ und „Kein Mensch Ist Illegal“. Die Bewohner*innen haben also erkannt, dass Rassismus und Diskriminierung Probleme – vielleicht sogar die Probleme - unserer Gesellschaft sind. Aber kann man diese Probleme in ihrer Tiefe wirklich verstanden haben, wenn eine „ACAB“ Girlande das eigene Zimmer schmückt?

Rassismus und Diskriminierung finden ihre Ursache vor allem in Menschen, die sich der Realität nicht stellen. Sie klammern sich an Ideologien und verwehren sich schlüssigen Argumenten. Wer Probleme in einer demokratischen Gesellschaft ernsthaft lösen will, muss offen für Kompromisse sein. Was Kompromissen im Weg steht, sind aber vor allen Ideologien und Verallgemeinerungen. Korrekterweise werden rechte Ideolog*innen belehrt und darauf hingewiesen, dass nicht alle Migrant*innen kriminell sind, nur weil sie nicht in Deutschland geboren wurden. Es scheint also, als wäre das in Verallgemeinerungen enthaltene Gift für eine demokratische Gesellschaft erkannt worden. Doch wäre dieses Gift in seiner vollen Zusammensetzung wirklich verstanden worden, würde sich dann die Mühe gemacht werden, das eigene Zimmer mit einer „ACAB“ Girlande zu dekorieren?

Die Schlüsse, die sich aus dieser Beobachtung ziehen lassen, sind erschütternd. Haben diejenigen, die sich am stärksten für Gleichberechtigung einsetzen, vielleicht gar nicht verstanden, was sie fordern? Oder hört Gleichberechtigung dort auf, wo die Menschen nicht ins eigene Weltbild passen, weil sie eine Uniform tragen? Dann wäre Gleichberechtigung der falsche Begriff, vielmehr wäre es eine Diskriminierung im Deckmantel der Gleichberechtigung. Wenn die Begriffe Gleichberechtigung und Diskriminierung aber nicht mehr trennscharf genutzt werden könnten, hätte das Gift seine volle Wirkung bereits entfaltet.

Selbstverständlich verhalten sich Polizist*innen nicht immer richtig, manchmal sogar sehr falsch. Diese Fälle müssen aufgearbeitet werden und dafür braucht es Räume, keine verhärteten Fronten. Wer Opfer von Polizeigewalt wird und sich daraufhin nicht zu schade ist, eine „ACAB“ Girlande ins Zimmer zu hängen, steht dem Opfer einer Gewalttat mit ausländischem Täter in der Demokratieunfähigkeit in nichts nach, das daraufhin Fahnen mit der Aufschrift „Ausländer raus“ schwingt. Diese Erkenntnis ist schmerzhaft, aber wichtig.

Verallgemeinerungen von Menschen sind eine Gefahr für die Demokratie. Wer sich der intellektuellen Auseinandersetzung mit Problemen verwehrt und Parolen wie „ACAB“ oder „Ausländer raus“ salonfähig macht, nagt unaufhörlich an unserem demokratischen Fundament. Der einzige Unterschied liegt darin, dass die einen von der linken Seite ihre Zähne hineinschlagen und die anderen von rechts.

JL 23.06.21

Nachtrag 13.09.22

Der Vergleich ist nicht unproblematisch.