„Ich liebe Schlägerei!“, grölt eine Jugendliche ihrer Freundin zu, während sie beide zügig einem Polizeiwagen folgen, der mit Blaulicht durch die Nacht donnert.
Wie jedes Wochenende, wird der Wilhelmsplatz in der Göttinger Innenstadt zur inoffiziellen Partymeile. Doch seit dem Lockdown mussten sich die Jugendlichen und Studierenden zusammenreißen. Zumindest bisher, denn seit dem 10. Mai wurden die Corona-Maßnahmen in Niedersachsen erheblich gelockert. Seit den Lockerungen drückt auch die Polizei ein Auge zu. Die Nachtruhe am Wilhelmsplatz gilt zwar schon ab 22 Uhr, eingeschritten wird vor 1 Uhr nachts aber nur selten. Es sei denn, es eskaliert.
Was um 21 Uhr noch viele kleine Grüppchen waren, wird langsam ein großer Organismus, der sich zu wummernden Rhythmen bewegt. Epizentrum der Bässe ist eine Bluetooth Box in der Größe eines Bierkastens. Sie steht wie ein heiliger Gral in der Mitte der Menge, nur die zur Musik blinkenden LEDs verraten ihren genauen Standort. Der Organismus wächst und wächst, seine Nahrung ist der Alkohol.
Der Alkoholkonsum sei eine Art Bewältigungsstrategie in Krisenzeiten, weiß der Suchtexperte Michael Falkenstein. Der Organismus am Wilhelmsplatz bewältigt die Krise hervorragend.
Immer häufiger zerbersten Bierflaschen, das schrille Klirren bahnt sich seinen Weg durch die Straßen. Die Stimmung des mittlerweile 150 Einheiten großen Organismus wirkt zunehmend angespannt. Doch bevor sich die Spannung entladen kann, blicken die Scheinwerfer eines Polizeiwagens vorsichtig um die Ecke, bevor das Auto langsam auf den Platz rollt. Die drei aussteigenden Beamten sehen schnell, wie wirkungslos sie gegen den stetig wachsenden Organismus sind. Es folgt erst ein weiterer Wagen, dann zwei, dann drei, dann vier. Nach wenigen Minuten stehen sieben silber-blau gestreifte Autos am Wilhelmsplatz, deren blitzende Blaulichter die Nacht erhellen und die LEDs des heiligen Grals obsolet werden lassen.
Langsam und behutsam trennen die Polizist:innen den Organismus in seine ursprünglichen Bestandteile auf. Allerdings erkennen nicht alle die Funktion der Beamt:innen als Immunsystem an, das infizierte Zellen davon abhält, weitere zu gefährden. Manche sehen in ihnen auch das Virus selbst. Nach etwa 45 Minuten ist der Platz leer, nur die vielen Dosen und Pizzakartons am Boden bezeugen die vergangenen Stunden. Plötzlich hasten zwei Polizisten zu ihrem Auto. Wenige Sekunden später drückt die Beschleunigung des Elektromotors die zwei in ihre Sitze.
Im Schein des blauen Stroboskops rennt plötzlich eine kleine Gruppe Jugendlicher vor den Wagen, die Bremslichter tauchen die Umgebung in grelles Rot. Vom roten Licht geblendet, stolpern zwei Mädchen zum Ort des Geschehens, wie die Fliegen zum Licht. „Ich liebe Schlägerei!“, wird der Sachverhalt fachkundig kommentiert.
Der Organismus am Wilhelmsplatz und sein Verhalten sind kein Einzelfall, Artgenossen werden in regelmäßigen Abständen in allen großen deutschen Städten gesichtet. Eines der prominenteren Exemplare konnte jüngst in München beobachtet werden.
Da 65% der Jugendlichen die Sorge haben, mit ihren Problemen nicht gehört zu werden, ganze 69% seit der Pandemie von Zukunftsängsten geplagt sind und weitere 58% angeben, die Situation der Jugendlichen sei den Politiker:innen nicht wichtig, ist die Entstehung solcher Organismen allerdings nicht verwunderlich.
Quellen (aufgerufen am 20.05.21):
M. Kutz 21.05.21