Wer Menschen in großen Gruppen beobachtet stellt fest, dass das Verhalten der Gruppe selten dem individuellen Verhalten der einzelnen Mitglieder entspricht. In Gruppen werden Grenzen überschritten, welche zu durchbrechen sich alleine nicht getraut wird. Es werden Parolen gerufen oder Dinge getan, die für ein einzelnes Individuum undenkbar wären.
Die Versuche, solch ein Verhalten zu erklären, setzen meist beim Individuum an. Es wird davon ausgegangen, das Individuum fühle sich in der Gruppe stark. Diese Ansätze haben durchaus ihre Berechtigung, setzen allerdings voraus, dass alle Handlungen des Individuums in der Gruppe Entscheidungen sind, die bewusst getroffen werden.
Somit wird ausgeschlossen, dass die Gruppe eine Kraft entwickelt, die außerhalb der Individuen liegt und diese auch ohne ihre bewusste Entscheidung zum Handeln zwingt. Diesen blinden Fleck gilt es nun zu erhellen.
Hierfür bietet sich das Bild eines Organismus an, dessen Leistungsfähigkeit ungleich der Summe seiner einzelnen Teile ist. Auf der einen Seite kann der Organismus von der Summer seiner Teile profitieren. Die Kommunikation zwischen Gehirnzellen und Muskelzellen führt zu einer Symbiose, deren Leistungsfähigkeit deutlich über der einer Ansammlung von Zellen liegt, die nicht miteinander kommunizieren. Die Kommunikation scheint also eine zentrale Voraussetzung zu sein.
Problematisch wird es, wenn die Gehirnzellen Signale senden, deren Komplexität die Muskelzellen am Verstehen der Nachricht hindert. In diesem Fall ist die Leistungsfähigkeit nicht größer als die Summer der einzelnen Teile, weil die Bedingung für die Symbiose – die Kommunikation – nicht möglich ist.
Ist es aber nun ausdrücklichster Wunsch aller Zellen, die gemeinsame Symbiose zum Erlangen neuer Fähigkeiten einzugehen, müssen die Gehirnzellen auf die Nutzung ihrer maximalen Fähigkeiten verzichten.
Da jeder Organismus das Überleben als oberstes Ziel hat, ist das Ziel aller seiner Bestandteile, ihn dabei zu unterstützen. Zu diesem Ziel verzichten also die Gehirnzellen auf bestimmte Fähigkeiten, da das Leben des Systems der vollen Ausschöpfung der individuellen Fähigkeiten übergeordnet ist.
Wird nun eine Gruppe von Menschen, oder die Masse, als ein großer Organismus begriffen, wird klar, wieso so viele Menschen in der Gruppe Dinge tun, die sie alleine nicht tun würden. Die Gruppe entwickelt unabhängig von den einzelnen Individuen den Wunsch des Überlebens, weshalb alle ihrer Bestandteile selbiges Ziel zur Priorität machen müssen. Das Fortbestehen der Gruppe wird wichtiger als eigene Interessen, individuelle Fähigkeiten oder persönliche Werte. Schließlich kann die Gruppe nur existieren, wenn alle untereinander kommunizieren. Wie bereits gezeigt, ist dies aber nur durch die Reduktion der individuellen Fähigkeiten, Wertvorstellungen etc. auf den kleinsten gemeinsamen Nenner möglich, da die Masse jeden Einzelnen zum Überleben braucht.
Diese Erkenntnis kann je nach Lesart unterschiedlich interpretiert werden. Zum Einen könnte geschlussfolgert werden, dass alle Anstrengung, die eigenen Fähigkeiten zu verbessern oder eigenen moralischen Ansprüchen gerecht zu werden verschwendete Ressourcen bedeute, solange es auch nur ein Individuum gibt, das diesen Ansprüchen nicht gerecht werden kann.
Allerdings würde diese Lesart einen ständigen Rückschritt der kollektiven Fähigkeiten bedeuten, da niemand sich selbst für den kleinsten Nenner halten würde und die Überprüfbarkeit zugegebenermaßen unmöglich wäre. Der resultierende kollektive Abstieg würde schließlich auch einen Nachteil für den Einzelnen mit sich bringen.
Auf der anderen Seite bedeutet die fehlende Überprüfbarkeit aber auch, dass es nie auszuschließen ist, selbst der kleinste Nenner zu sein. Wird also das Überleben des Organismus – das Bestehen der Gesellschaft – als Priorität gesetzt, so ist diese Erkenntnis eine unaufhaltsame Motivation, um stets das Beste zu geben. Schließlich ist nicht auszuschließen, dass der Zwang zur Anpassung der Gesellschaft nach unten im eigenen Verhalten begründet ist. Würde nun also ein jeder Teil der Gesellschaft dies erkennen, so würden sich die Fähigkeiten der Masse ins Unendliche steigern.
Dieser Argumentation folgend ist also die wichtigste Voraussetzung zum Steigern der Fähigkeiten eines Organismus die Bewusstwerdung einer jeden Zelle, Teil dieses Organismus zu sein, auf welchen das eigene Verhalten ganz konkrete Auswirkungen hat. Es scheint nichts so wichtig für die Gesellschaft, wie die Erkenntnis, ein Teil von ihr zu sein.
JL 24.05.21