Die Annahme, Mensch und Natur (hier auch Umwelt) – beziehungsweise Subjekt und Objekt – seien zwei voneinander abgrenzbare Gegenstände, lässt sich mit keinem Begriff besser gleichsetzen, als dem der Illusion. Was uns auf den ersten Blick als markante Grenze erscheint, wird bei genauerem Hinsehen immer diffuser.
Um den eigentlichen Charakter dieser vermeintlichen Gegenstände zu veranschaulichen, stelle man sich vor, man beobachte einen Küstenabschnitt aus dem Flugzeug. Würde man nun gefragt, wo die Grenze von Land und Meer verläuft, so könnte man diese problemlos ausmachen. Steht man bei selbiger Fragestellung aber direkt am Strand, fällt diese Unterscheidung bereits schwerer. Es ist keine klare Grenze mehr erkennbar. Die Wellen versuchen sich in rhythmischen Bewegungen an der Eroberung des Strandes und nehmen Teile von ihm ein und ziehen sich wieder zurück, nur um im nächsten Moment wieder zurückzukehren. Wo verläuft die Grenze von Land und Meer jetzt? Wie viel Strand darf das Meer einnehmen, bevor der Strand zum Meeresgrund wird? Nun könnte man sagen, dass der Strand eine Grenzregion darstellt, an der diese Unterscheidung besonders schwerfällt. Doch auch, wenn wir mitten im Meer stehen, bleibt es unmöglich, diese Frage zu beantworten. Denn die vermeintliche Grenze verläuft nicht nur zwei- sondern dreidimensional. Je genauer wir den Grund des Meeres anschauen, umso mehr verschwindet diese Grenze. Am Meeresgrund ist der Sand aufgewirbelt, überall ist Sand im Meer, bis das Meer im Sand ist. Doch an welcher Stelle vollzieht sich der Wechsel? Wann ist Sand im Meer und wann Meer im Sand? Diese Frage kann nicht beantwortet werden. Vielmehr müssen Land und Meer als Pole gedacht werden, die uns in der Welt aber stets als Verhältnisse voneinander begegnen.
Ganz ähnlich verhält es sich bei den Grenzen von Mensch und Natur, Subjekt und Objekt. Der Mensch transzendiert die Natur und seine Umwelt in dem Maße, wie sie ihn transzendieren und auch das Subjekt transzendiert das Objekt und vice versa. In dem Moment, indem das Subjekt vor dem Objekt steht, ist es schon in ihm. Und zwar in Form von Wissen. Das Subjekt kann das Objekt nur erkennen, wenn es schon von ihm weiß, schon vorher etwas von ihm in sich trägt, auch wenn es nur eine Idee ist.
Die Untersuchung von Mensch und Natur, beziehungsweise Subjekt und Objekt, kann nur dann adäquat erfolgen, wenn man sie jeweils als Pole begreift, die zueinander in einem Verhältnis stehen, und nicht als zwei sich gegenüberstehende Entitäten.
Wir sind immer auch Natur und Natur ist immer auch wir.
J. Lietzke 13.09.22
Nachtrag
Eigentlich liegt das Problem hier nicht im Gegensatz von Mensch und Natur - das Problem ist vielmehr der Gegensatz an sich. Das Denken in Gegensätzen wird dem, was wir hier mal vorsichtig Realität nennen wollen, unter keinen Umständen gerecht. Jegliche Art der Kategorienbildung, die Sprache ärgerlicherweise immanent ist, ist der klägliche Versuch, die Komplexität der Realität wiederzugeben. Zum Scheitern verurteilt ist dieses Unterfangen deshalb, weil Realität nicht aus Gegensätzen, sondern Verhältnissen besteht. Es bräuchte also Begriffe von Verhältnissen und nicht von Kategorien, um sich der Realität vorsichtig nähern zu können.
J. Lietzke 03.03.23